Wie wird man Obdachlos?

Als ich das erste mal in meinem Leben Obdachlos wurde, war ich gerade 17 Jahre alt.
Obwohl ich regelmäßig das Jugendamt aufsuchte, hatte es ganze sechs Monate gedauert bis ich endlich meine erste Wohnung erhielt. Damals besuchte ich das Raum58 in Essen, im Ruhrgebiet. Eine Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene bis zum 21 Lebensjahr, welche auf der Straße leben.

Seid August 2016 bin ich wieder auf der Straße. Die Anfangszeit überbrückte ich teilweise mit dem erblicken von neuen Dingen. Neue Städte, neue Menschen, neue Orte, dass aufsuchen von Sehenswürdigkeiten – sich ablenken! Zeitweise besuchte ich auch eine  Hippiekommune in der Stadt Valencia in Spanien welche mir Unterkunft und Lebensmittel gab. Im Gegenzug arbeitete ich für sie auf dem Hof und half bei verschiedenen Dingen mit.

Bis ich für mich erkannte, dass ich gar kein Reisender mehr bin, sondern auf der Straße lebe, verging einige Zeit. Erst fühlte ich mich destabilisiert und sehr verloren.
Dann bemerkte ich, dass ich an Orte und Menschen geraten bin, welche nicht nur unangenehm, sondern gar gefährlich für meine Psyche sind. Bis ich endlich die Stärke in mir fand nach der Ursache meines Versagens im Leben zu suchen geschah also einiges.

Ist jemand gescheitert, sofern jemand sein Leben auf der Straße verbringt?
Auf diese Fragestellung möchte ich meinem Blogbeitrag: Das Leben auf der Straße näher auf den Grund gehen.

Als Ursache für Obdachlosigkeit habe ich mehrere signifikante Punkte aus gemacht:

  1. Instabile finanzielle Lebenslage
  2. Psychische Erkrankungen
  3. Obdachlosigkeit in der Jugend / Kindheit
  4. Einfluss von Psychopathen/Narzissten
  5. Flucht vor Staatsgewalt/Staatsversagen/Korruption und Kriegen
  6. Naturkatastrophen (z. B. Erdbeben oder Überflutungen)

Ich möchte genauer auf die psychischen Merkmale eingehen

  • Angststörung z. B. Briefangst (Die Angst und Überforderung Briefe zu öffnen)
  • Versagensängste
  • Eskapismus / Realitätsflucht / Vermeidungsstrategien
  • Strukturkonservatives verhalten (die Unfähigkeit zur Veränderung führe zum Verlust der Handlungsfähigkeit)
  • Depression und Burn Out
  • Alkohol und Drogen
  • unausgereifte Persönlichkeiten (Persönlichkeitsstörung / Charakterschwäche)

Da kommen schon einige schwerwiegende Punkte zusammen warum man überhaupt Obdachlos wird, aber den entscheidenden Punkt erklärt mir der erste Satz im Bericht von Brandeins.de mit einem Kommentar von Harald Ansen, Professor für Soziale Arbeit und Armutsexperte an der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften

Quelle: https://www.brandeins.de/archiv/2012/zweite-chance/warum-gibt-es-eigentlich-immer-noch-obdachlose/

Der beste Weg, obdachlos zu werden, ist, sich tot zu stellen.

Viele Kommunen reagieren erst wieder, wenn der Hilfsbedürftige nach der Zwangsräumung auf der Straße steht. In Frankfurt, wo Christine Heinrichs seit 25 Jahren in der Obdachlosenhilfe arbeitet, setzt man dagegen auf die sogenannte aufsuchende Hilfe. Werden die Briefe vom Amt nicht beantwortet, klingeln Mitarbeiter des Frankfurter Vereins an der Wohnungstür und versuchen, Kontakt aufzunehmen. Das ist schwierig, denn die Menschen haben sich meist schon zu sehr in ihre eigene Welt zurückgezogen. (Eskapismus/Vermeidungsstrategien)

Mehr Wohnraum wäre schön – löst aber das Problem nicht

Der Armutsforscher Harald Ansen unterscheidet bei den Obdachlosen drei große Gruppen:

– Menschen in kritischen Lebenssituationen, wegen einer Trennung, dem Verlust der Arbeit oder Schulden.

– Junge Menschen, die ungeregelt aus Jugendhilfeeinrichtungen entlassen werden mit großen biografischen Lücken.

– Menschen mit gebrochenen Biografien, die immer schon randständig gelebt haben, oft mit hoher beruflicher Mobilität, wie zum Beispiel Seeleute.

Da klingelt schon wieder etwas bei mir und ich kann mich gleich mit einigen Punkten identifiezieren, welche ich in meiner Vergangenheit gelebt habe, auch wenn ich kein Seemann geworden bin. 😀
Wie weit sich jemand mit diesen Punkten identifizieren kann muss jeder fuer sich selbst wissen.

Ich moechte genauer auf die Briefangst / Postangst eingehen welche ich selber stark ausgelebt habe und ich mich noch gut daran erinnern kann das meine Briefe manchmal in der gesamten Wohnung rum flogen oder sogar direkt in den Muelleimer befoerdert wurden.

Quelle: http://www.bento.de/gefuehle/briefkasten-phobie-wie-es-ist-mit-panischer-angst-zu-leben-161309/

Eva heißt eigentlich anders. Sie ist Anfang 30 und gelernte Bürokauffrau und Fachwirtin für Online- Marketing.

Ich öffnete den Briefkasten nicht mehr. Ich beschloss gar nicht, ihn zu ignorieren. Er war und ist für mich schlicht nicht existent.

Sobald “Post” in meinem Gehirn aufpoppt, schiebt sich sofort ein anderer Gedanke darüber. Mein Gehirn hat selbstständig entschieden, sich dieser Belastung nicht weiter auszusetzen. Ich kann darüber schreiben, reden, sogar Witze darüber machen und es erklären. Es ändert nichts an der Tatsache, dass “Post” und “Briefkasten” ein für mich dramatisches Thema bleiben.

Ich habe mir Hilfe geholt, denn ich weiß: Post muss geöffnet werden. Meine Neurologin empfahl mir, betreutes Wohnen zu beantragen. Das hat mich gerettet.

Ich verband “betreutes Wohnen” damals mit Menschen, die ihren Alltag nicht mehr bewältigen können. Ja, das traf bei mir zu, nur anders, als ich mir eben Menschen vorstellte, die ihren Alltag nicht mehr bewältigen können. Schließlich konnte ich problemlos meine Kinder betreuen und den Haushalt bewältigen. Ich brauchte nur Hilfe bei Amtsgängen und, nun ja, der Post.

Fuer mich kristaliseren sich zwei Punkte ganz besonders.
Erstens die Angst des eigenen Geistes, die zu einem Vermeidungsverhalten fuehrt und zweitens das Vermeidungsverhalten selbst, welches frueher oder spaeter zu Obdachlosigkeit fuehrt.

In meinem Blogbericht Andere Wege gehen – Schematherapeutisches Selbsthilfebuch von
Gitta Jacob  (Autor),‎ Hannie van Genderen (Autor),‎ Laura Seebauer  (Autor) welches ich ausgearbeitet habe, werden auf Vermeidungsstrategien und unausgereifte Gefuehle eingegangen. Es ist ein sehr guter Einstieg um sich mit seinem Inneren Kind, erstmalig, auseinander zu setzen.

In einem anderen Bericht des Magazins Zeit moechte ich Aufmerksam machen wie einfach und schnell man die Kontrolle ueber solche buerokratische Ereignisse zu verlieren kann.
Selber identifiziere ich mich mein Gefuehl zur Briefangst mehr mit Eva aus bento.de statt mit Anna von Zeit.de, dennoch habe ich das selbe Gespraech mit meiner Mutter am Telefon schon gefuehrt.

http://www.zeit.de/zeit-magazin/2017/34/postangst-phobie-briefe-post

Bei mir sind es nicht nur die Botschaften von Ämtern, vor denen ich mich fürchte. Für mich ist jeder Brief unantastbar. Die Weihnachtspost einer Freundin lag bis Ende Januar auf meinem Küchentisch. Dann habe ich den Brief verschlossen ins Altpapier geworfen, weil inzwischen zu viel schlechtes Gewissen an dem Umschlag klebte. Ich habe ihr geschrieben: „Es tut mir leid, ich habe es nicht geschafft, deinen Brief zu öffnen. Vielleicht bin ich verrückt.“ Briefe schreiben ist kein Problem, nur öffnen geht nicht. Sie hat mich nie wieder darauf angesprochen.

Nun habe ich mir vorgenommen, die Angst zu besiegen. Den Berg abzutragen, die Briefe zu öffnen. Weil es nicht so weitergehen kann. Aus einer Zeitschrift, die ich vor zwei Monaten gekauft habe, fallen drei Umschläge, ungeöffnet. Ich habe sie irgendwann dort hineingelegt, um sie nicht mehr sehen zu müssen.

Der nächste Umschlag. Das Logo meiner Krankenversicherung. Ganz oben das Datum: 28. November 2016. Inzwischen ist es April 2017. Die ersten zwei Sätze: „Frau Mayr, wir haben Sie mehrmals gebeten, uns Ihr aktuelles Beschäftigungsverhältnis mitzuteilen. Sie haben nicht geantwortet.“ Ich dachte, um meine Krankenversicherung müsste ich mich erst in zwei Jahren kümmern, wenn ich 25 werde. Bis dahin bin ich Familienversichert. Meine Krankenversicherung sieht das anders: „… demnach stufen wir Sie in die höchste Einkommensklasse ein, woraus sich eine Beitragsnachzahlung von 4.731,23 Euro ergibt.“

Ich habe keine 4.731,23 Euro.

Es ist nicht das Papier oder die Mahngebühren, die mir Angst machen. Es sind die Sekunden zwischen Unwissenheit und Schicksal. Ich stelle mir vor, dass bei einem Flugzeugabsturz alle Passagiere ganz still werden, sobald sie wissen, dass es vorbei ist. Diese Sekunden, in denen ich das Papier auffalte und realisiere, dass es jetzt in Richtung Boden gehen könnte. In diesen Sekunden steckt die Angst.

Noch ein Brief von der Krankenversicherung. Mir fällt eine grüne Plastikkarte entgegen mit einem Foto von mir, das gemacht wurde, als ich 16 war. „Willkommen in der Familienversicherung“, steht da. Daneben das Datum: 28. Dezember 2016. Einen Monat nach dem 4.731,23 Euro-Brief. Ich rufe meinen Vater an. Als er abnimmt, tue ich so, als hätte es die letzten zwei Stunden nicht gegeben. „Sag mal … ich bin doch noch über euch versichert?“

„Klar. Ich hab doch neulich erst deine Studienbescheinigung bei der Kasse abgegeben.“

„Ah. Okay. Wie geht’s Mama?“

Ich bekomme mein Leben nicht auf die Reihe. Und ich bin nicht mal erwachsen genug, mein Leben selbst zu ruinieren. Ich habe es nicht geschafft, aus der Krankenkasse zu fliegen, und auch nicht, drinzubleiben. Die Dinge sind passiert, ohne mich, obwohl sie mich betreffen. Das ist erleichternd. Aber es macht mir genauso viel Angst wie die 4.731,23 Euro.

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